Zwischen Liebe, Zweifel und der Suche nach Antworten
Es gibt Kinder, die ticken einfach ein bisschen anders. Die fühlen intensiver, bewegen sich mehr, sprechen lauter, fordern häufiger heraus – und berühren gleichzeitig das Herz tiefer. Mein Kind ist so ein Kind. Es denkt anders, verhält sich anders. Es sprengt manchmal die Strukturen, die andere scheinbar mühelos einhalten. Und genau das macht es so besonders. So wunderbar.
Schon in der Kita fiel es auf: mein Kind eckt öfter an, unterbricht, wirkt impulsiv, zappelig, unruhig. Schnell fiel das Wort ADHS. Doch ich habe mich dagegen gewehrt. Denn mein Kind – das ist nicht einfach nur eine Abkürzung. Es ist ein Mensch mit einem stürmischen, sonnigen, komplexen Wesen. Es lässt sich in keine Schublade stecken, und ich wollte es auch nie versuchen.
Wir leben mit intensiven Momenten: mit herzerwärmendem Lachen, mit Tränen, die wie ein Sommergewitter kommen, mit grenzenloser Energie – und tiefen Erschöpfungszuständen. Wir haben über die Jahre gelernt, zu erkennen, wann mein Kind eine Pause braucht. Wann es Nähe will. Wann Rückzug. Wann es einfühlsame Worte braucht – oder einfach nur Stille.
Um ihm auf seinem Weg zu helfen, habe ich selbst neue Wege eingeschlagen. Ich habe eine Ausbildung zur Kinderyoga-Lehrerin gemacht, um ihm Tools an die Hand zu geben – zur Regulation, zur Selbsterkenntnis. Seit seinem zweiten Lebensjahr begleiten wir Gefühle mit Sprache. Wir üben, zu erkennen, was im Inneren los ist – und warum sich der Körper manchmal „verselbstständigt“.
Und trotzdem: Seit dem sechsten Geburtstag hat sich etwas verändert. Alles scheint angespannter, fordernder, schneller. Der Übergang zur Schule steht bevor – ein riesiger Schritt, der mehr Unsicherheit mit sich bringt, als wir Erwachsenen oft glauben. Aussagen wie „Das geht in der Schule aber nicht mehr!“ oder „Du bist doch jetzt groß!“ lösen keine Vorfreude aus – sondern Druck. Angst. Zweifel.
Drahtseilakt Alltag
Im Moment fühlt sich jeder Tag wie ein Drahtseilakt an. Wir balancieren zwischen Geduld und Erschöpfung, zwischen Verständnis und Grenzen, zwischen Struktur und Freiheit. Und manchmal geraten wir selbst als Eltern an unsere Grenzen. Nicht, weil unser Kind nicht liebenswert wäre – sondern weil es einfach mehr Begleitung braucht. Mehr Aufmerksamkeit. Mehr Regulation – von innen wie von außen.
Neulich fragte ich mein Kind:
„Mein Schatz, hast du manchmal das Gefühl, dass du anders bist?“
„Ja Mama. Ich bin so unruhig. Mein Körper macht Sachen, die ich gar nicht will. Und dann bekomme ich dafür Ärger.“
Dieser Satz trifft mitten ins Herz. So viel Reflexion, so viel Wahrheit, so viel Schmerz in einer kindlichen Stimme.
Diagnostik – ein Weg voller Fragen
Wir haben uns entschieden, in die Diagnostik zu gehen. Ein langer Weg – mit Wartelisten, Telefonaten, Rückschlägen. Jetzt sind wir bei Termin 3 von 5. Mein Kind durchläuft die Testung – tapfer, offen, manchmal auch überfordert. Und ich? Ich sitze daneben mit einem Kopf voller Gedanken und einem Herz voller Fragen.
Was, wenn es doch keine Diagnose gibt? Was, wenn wir etwas falsch gemacht haben? Haben wir zu wenig gesehen? Zu viel zugelassen? Zu wenig Grenzen gesetzt?
All mein Wissen, meine Ausbildung, meine Erfahrung sagen mir: Es liegt nicht an unserer Art der Begleitung. Wir stärken unser Kind bestmöglich, begleiten und unterstützen es. Lindern dadurch sogar die Symptome. Und trotzdem: Diese leisen Zweifel flüstern weiter.
Was nicht hilft, sind gut gemeinte Kommentare wie:
„Ach, das ist normal. Das verwächst sich.“
„Mein Kind war auch so!“
„Seid ihr sicher?“
„Wenn ihr jetzt eine Diagnose bekommt, schränkt das doch später seine Chancen ein…“
Ich weiß, dass sie oft aus Sorge oder Unwissenheit kommen. Aber sie verfehlen ihr Ziel. Denn niemand geht diesen Weg leichtfertig. Keine Familie wünscht sich eine Diagnose. Aber manchmal ist sie der Schlüssel – zu mehr Verständnis, zu gezielter Unterstützung, zu innerem Frieden.
Was ich mir wünsche
Ich wünsche mir mehr Achtsamkeit im Umgang mit Eltern, die mitten im Prozess stecken. Mehr Zuhören, weniger Ratschläge. Mehr offene Fragen, weniger Schubladen. Ich wünsche mir Räume, in denen Kinder einfach Kinder sein dürfen – mit all ihrer Einzigartigkeit.
Und ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft aufhören, Kinder zu bewerten, bevor wir sie wirklich verstehen. Nicht jedes Kind funktioniert gleich. Und das ist gut so. Unser anderes Kind zum Beispiel – ist ganz anders. Und genau das zeigt mir: Es gibt kein „normal“. Es gibt nur individuell. Und einzigartig. Und verschieden stark in ihren Bedürfnissen.
Wir als Familie haben den Entschluss getroffen, uns Hilfe zu holen. Und das war alles andere als einfach. Aber es war wichtig. Denn wir wollen unser Kind nicht verändern – wir wollen es stärken. Ihm helfen, sich selbst zu verstehen. Und in einer Welt zurechtzukommen, die oft nicht für Kinder wie ihn gemacht ist.
An alle Eltern, die sich gerade ähnlich fühlen:
Ihr seid nicht allein. Ihr macht nichts falsch. Ihr dürft euch Hilfe holen! Ihr geht diesen Weg nicht, weil ihr euch eine einfache Lösung erhofft – sondern weil ihr eure Kinder liebt.
Alle Liebe,




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